Zum Hauptinhalt springen

MitteilungVeröffentlicht am 23. November 2018

Eine humanitäre Errungenschaft wird in Frage gestellt

Vor 70 Jahren, nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, raufte sich die internationale Gemeinschaft zusammen und verabschiedete die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte». Sie ist Grundlage eines heute vielfältig ausgestalteten internationalen Systems für den Schutz von Menschenrechten. Doch diese werden zunehmend in Frage gestellt – in Ländern des globalen Südens genauso wie in Europa.

Polen, Ungarn und die Türkei, die einst erfolgreich einen Transitionsprozess starteten und demokratische Systeme aufbauten, haben in der letzten Dekade Repressionen gegen Minderheiten, Oppositionelle und Journalisten stetig ausgebaut.

Autor: Samuel Schläfli

Mohammad Musa Mahmodi kann viel darüber erzählen, was es bedeutet in einem Land zu leben, in dem Menschenrechte von allen Konfliktparteien systematisch verletzt werden. Obschon sie 2008 in die Verfassung Afghanistans aufgenommen worden sind. Und obschon Afghanistan bis 2020 Mitglied des UNO-Menschenrechtsrats ist. Bei einem Skype-Gespräch mit dem Leiter der «Afghanistan Independent Human Rights Commission» (AIHRC) Ende Juli, erzählt Mahmodi aus Kabul von aktuellen Ereignissen: Am Vortag unseres Gesprächs sind bei einem Bombenanschlag 14 Zivilisten getötet worden. «Ohne jeglichen Grund! Einfach nur, weil sie in einem Gebiet leben, das von Taliban und IS-Kämpfern kontrolliert wird.»

Als Vergeltung gegen Regierungsentscheide, und um die Bevölkerung zu erpressen, haben die Taliban in den letzten Monaten Dutzende von Schulen und Spitälern geschlossen. Das fundamentale Menschenrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person wird in Afghanistan nicht nur durch die Taliban und den IS, sondern genauso von marodierenden Splittergruppen,

Drohnenangriffen sowie korrupten Regierungsbehörden täglich verletzt. «Das Schlimmste bei meiner Arbeit ist, in die Augen sehr mächtiger Menschen schauen zu müssen, von denen ich genau weiss, dass sie die Menschenrechte systematisch verletzen», sagt Mahmodi. «Vor allem, wenn man daneben sehr schwach und klein ist.»

Obwohl sich 162 Staaten völkerrechtlich verpflichtet haben, das Menschenrecht auf Nahrung zu achten, zu schützen und zu gewährleisten, hungern mehr als 800 Millionen Menschen – viele davon, weil sie keinen Zugang zu Land und Wasser haben.

Eingeschränkte Souveränität zugunsten der Humanität

Am 7. Dezember 1948 präsentierte Eleanor Roosevelt, die Witwe des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, an einer Pressekonferenz in Paris die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» (AEMR). Drei Tage später wurde sie von der UNO-Generalversammlung verabschiedet. Die Erklärung hielt erstmals grundsätzliche zivile, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Rechte jedes Individuums in 30 Artikeln fest. Die UNO-Mitgliedstaaten verpflichteten sich, «die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen». Nach einem halben Jahrhundert Krieg, Zerstörung und grauenhafter Genozide, war die AEMR ein Meilenstein im gemeinsamen Bestreben nach einer friedlicheren Zukunft. Die Mitglieder der drei Jahre zuvor geschaffenen UNO anerkannten, dass die Souveränität von Staaten, im Falle der Nichtrespektierung von fundamentalen Rechten des Menschen, Grenzen hat.

Ein Mangel begleitet die AEMR jedoch seit ihrer Ausrufung. Sie war von Beginn an nicht rechtlich verbindlich und genauso wenig waren es die Beschlüsse der damit verbundenen Institutionen, allen voran des Hochkommissariats für Menschenrechte (UNHCHR) und des Menschenrechtsrats (MRR, siehe Kasten). Sanktionen, Ausschlüsse und Interventionen können lediglich durch den UNO-Sicherheitsrat und im Einverständnis seiner fünf ständigen Mitglieder beschlossen werden. Die später geschaffenen völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtskonventionen besitzen zwar Sanktionsmechanismen, aber die Verfahren sind häufig weit weg von den Betroffenen. Insofern war von Anfang an klar, dass die Respektierung der Menschenrechte stets wieder von Neuem erkämpft und gesichert werden muss – von Diplomaten in den UNO-Gremien, von Politikern, Menschenrechtsaktivisten und Anwälten wie Mahmodi.

Akut gefährdet in über 50 Staaten

Aktuell ist jedoch ein lange Zeit undenkbarer Trend erkennbar: 70 Jahre nach Verabschiedung der AEMR werden die Menschenrechte immer häufiger von Regierungen in Frage gestellt. Die NGO «Freedom House» mit Sitz in Wa- shington D.C. bewertet, basierend auf der AEMR, jährlich die 195 UNO-Mitgliedstaaten in Bezug auf individuelle Rechte und Freiheiten ihrer Bürgerinnen und Bürger. Ihr Befund: Die globale Situation verschlechtert sich seit zehn Jahren. Nicht nur in instabilen Staaten wie Afghanistan, sondern auch in Europa: Polen, Ungarn und die Türkei, die einst erfolgreich einen Transitionsprozess starteten und demokratische Systeme aufbauten, haben in der letzten Dekade Repressionen gegen Minderheiten, Oppositionelle und Journalisten stetig ausgebaut. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte wies vergangenen März vor dem MRR in Genf darauf hin, dass die Menschenrechte gegenwärtig in über 50 Ländern akut bedroht sind und zunehmend missachtet würden. Verantwortlich dafür sind oftmals Regierungen, die sich der AEMR und zusätzlichen Menschenrechtsverträgen nicht mehr verpflichtet fühlen – meist aufgrund innenpolitischer Präferenzen und geostrategischen Interessen.

Céline Barmet, wissenschaftliche Assistentin am «Center for Security Studies» der ETH Zürich, publizierte diesen Juni eine Analyse zu den aktuellen Herausforderungen der Menschenrechte. «Allgemein lässt sich feststellen, dass die globale Umsetzung der Menschenrechte nach wie vor ungenügend ist und oftmals wirtschaftlichen, geostrategischen und machtpolitischen Interessen zum Opfer fällt», sagt sie. Das habe auch damit zu tun, dass das westlich-demokratische Modell, das auf dem Konzept der Universalität, der Unteilbarkeit und der Interdependenz der Menschenrechte sowie auf fest verankerten individuellen Rechten und Freiheiten basiert, immer mehr unter Druck gerate. «Wachsende Intoleranz, verstärkter gewalttätiger und religiöser Extremismus, ökonomische Ungleichheit, die Auswirkungen des Klimawandels und die mit all diesen Faktoren verbundenen Migrationsbewegungen stellen die Menschenrechte derzeit vor grosse Herausforderungen.»

Geflüchtete Rohingya in Bangladesch: Seit vielen Jahren werden dieser muslimischen Minderheit Myanmars vom Staat praktisch sämtliche Menschenrechte abgesprochen – darunter die Staatsangehörigkeit und der Zugang zum Gesundheitswesen.

Vertreibungen und humanitäre Katastrophen

Die vergangenen zwei Jahre waren diesbezüglich besonders ernüchternd. Seit 2017 schaut die Weltgemeinde einer Massenvertreibung in der burmesischen Provinz Rakhine zu (laut Amnesty International handelt es sich um «ethnische Säuberung»). Dort werden den Rohingya, einer muslimischen Minderheit Myanmars, vom Staat seit vielen Jahren praktisch sämtliche Menschenrechte abgesprochen – darunter die Staatsangehörigkeit und der Zugang zum Gesundheitswesen. Über 655 000 Menschen flohen über die Grenze nach Bangladesch.

Weitere aktuelle Beispiele von krassen Verstössen gegen Menschenrechte sind einfach zu finden: die humanitären Katastrophen in Jemen, Südsudan oder Syrien. Dort leidet die zivile Bevölkerung Hunger, hat keinen Zugang zum Gesundheitswesen, zu Wasser und Bildung. Wohnraum und Eigentum werden zerstört, und an verantwortungsvolle Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit oder den Zugang zur Justiz ist gar nicht zu denken.

Syrische Flüchtlinge beim Gebet in einem UNO-Flüchtlingscamp in Griechenland: Jeder Mensch hat das Recht, die persönliche individuelle Glaubensüberzeugung in Form einer Religion oder Weltanschauung frei und öffentlich auszuüben.

Angekratzte Glaubwürdigkeit der UNO

Auch in der sogenannt westlichen Welt ist die Respektierung von Menschenrechten, darunter das Recht auf Asyl bei Verfolgung und das Recht auf persönliche Entwicklung, mittlerweile stark umstritten. Beim Versuch das Mittelmeer zu überqueren starben 2017 laut Internationaler Organisation für Migration (IOM) 6123 Menschen. Das ist nicht nur eine humanitäre Tragödie, sondern auch eine Krise der AEMR. In den USA wiederum – ein Staat, der seine geopolitischen Ambitionen in der Vergangenheit auch mit der globalen Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten rechtfertigte – werden Migrantinnen aus Lateinamerika an der Grenze von ihren Kindern getrennt.

Der UNO-Menschenrechtsrat (MRR)

Der MRR ist das primäre UNO- Forum in Menschenrechtsangelegenheiten. Er prüft sämtliche UNO-Staaten auf ihre Menschenrechtslage, leistet wichtige Aufklärungsarbeit, schafft internationale Menschenrechtsstandards und fördert deren Durchsetzung durch Dialog, Kapazitätsaufbau und technische Unterstützung. Ein wichtiges Werkzeug des MRR ist die «Universelle regelmässige Überprüfung» (UPR). Alle UNO-Mitgliedstaaten werden in diesem Rahmen auf ihre staatliche Menschenrechtslage überprüft und erhalten durchschnittlich 180 Empfehlungen für Verbesserungen. Als Grundlage für die Inspektion dienen die UNO-Charta, die AEMR, freiwillige Zusagen sowie alle Menschenrechtsverträge, die ein Staat unterzeichnet hat. Die Empfehlungen sind rechtlich nicht bindend. Insofern hängt die Effektivität der UPR vom Willen des überprüften Staates ab.

Die Krise der AEMR hat aber auch UNO-interne Gründe: Laut Freedom House sind 26 von 47 der diesjährigen Mitgliedsländer des Menschenrechtsrats (MRR) nur teilweise oder nicht frei. Afghanistan, Ägypten und China zum Beispiel gehören dazu. Diese Staaten haben kein Interesse daran, dass die Situation im eigenen Land analysiert und Verfehlungen kritisiert werden. Das kratzt an der Glaubwürdigkeit des wichtigsten internationalen Gremiums zur Durchsetzung der AEMR. Und es macht es populistischen Regierungen einfach, den Rat wegen mangelnder Effizienz zu kritisieren. So geschehen im Fall der USA. Am 19. Juni verkündete die UNO-Botschafterin Nikki Haley den Rückzug der USA aus dem MRR, angeblich wegen einer israelfeindlichen Haltung und weil er unmenschliche Regimes schütze.

Protestmarsch im Juni 2016 in Santiago de Chile: Laut UNO ist die Gewalt gegen Frauen eines der am meisten verletzten Menschenrechte.

«Der Austritt der USA ist ein Affront gegenüber internationalen Menschenrechtsbemühungen», sagt Barmet. «Die USA hatten nicht nur die UNO massgeblich mitgegründet, sondern haben das westlich-demokratische Gesellschaftsmodell, das auf Menschenrechten basiert, historisch geprägt.» Der Austritt ist nicht nur wegen seiner Symbolik bedeutend. Er könnte auch die Machtverhältnisse im MRR nachhaltig verändern. «China hat im Rat bereits eine zunehmend aktive Rolle übernommen», erzählt Barmet. «Das ist insofernproblematisch, als nach chinesischer Auffassung das Recht auf Entwicklung gegenüber anderen unveräusserlichen Menschenrechten Vorrang erhält.»

Das zunehmende Desengagement von Staaten hinsichtlich ihrer Verpflichtungen im Rahmen der AEMR, beschäftigt auch Mohammad Musa Mahmodi. «Die Durchsetzung der Menschenrechte ist eine geteilte, internationale Verantwortung», ist der Anwalt überzeugt. Besonders in Afghanistan, mit seiner Geschichte der Besetzungen durch fremde Mächte. Zudem liege ein gemeinsames Engagement auch im Interesse der internationalen Gemeinschaft: «Wenn unser Land komplett in die Hände der Taliban fällt, könnte es zum Hort des internationalen Terrorismus’ werden. Abgesehen davon, dass noch mehr Afghanen das Land Richtung Europa verlassen würden.»

Mahmodi war selbst schon mehrmals in der Schweiz, unter anderem auf Einladung der DEZA in Bern. Die Schweiz sei für ihn ein Ort der grenzenlosen Ruhe – «das Land des Friedens schlechthin». Dass im Land des absoluten Friedens im November 2018 über eine allfällige Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention abgestimmt wurde, zeigt indes, dass auch hier die Selbstverständlichkeit der Unterordnung von staatlichen und politischen Interessen unter die 30 Artikel der AEMR zunehmend zur Disposition gestellt wird.

Die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) schätzt, dass weltweit noch immer 263 Millionen Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen und ihnen damit das Menschenrecht auf Bildung vorenthalten wird.

Die Schweiz: Globales Zentrum für Menschenrechte

Das Engagement des Bundes für die Achtung von Menschenrechten ist Bestandteil der Aussenpolitik und in der Bundesverfassung als solcher definiert (vgl. BV Art. 54). Die Schweiz war 2006 an der Gründung des UNO-Menschenrechtsrats massgeblich beteiligt. Sie ist seit 2016 noch bis Ende Jahr zum dritten Mal Mitglied. Genf ist Gaststadt des Menschenrechtsrates (MRR) und des Hochkommissariats für Menschenrechte (UNHCHR) sowie Depositarstaat der Genfer Konventionen (als Teil des humanitären Völkerrechts). Deshalb wird die Stadt oft als globales Zentrum für Menschenrechte bezeichnet. Die Schweiz strebt derzeit den Status als nichtpermanentes Mitglied des Sicherheitsrates in New York in den Jahren 2023/24 an. In dieser Position könnte sie sich noch aktiver für die Einhaltung der AEMR einsetzen.

Menschenrechtssituation in der Schweiz

Nach 2008 und 2012 wurde die Schweiz 2017 zum dritten Mal einer «Universellen Regelmässigen Überprüfung» (UPR) des MRR unterzogen. Dabei erhielt sie von 111 UNOMitgliedstaaten 251 spezifische Empfehlungen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation. Folgende Themen standen im Vordergrund: die Schaffung einer unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution, verstärkter Diskriminierungsschutz im Bereich Rassismus, Migration, Asyl, Geschlechtergleichstellung sowie LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender) und die Vereinbarkeit des Initiativrechts mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen. Von diesen 251 Empfehlungen nahm die Schweiz 160 an und lehnte 91 ab.

Kontakt

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)
Eichenweg 5
3003 Bern