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MitteilungVeröffentlicht am 22. Dezember 2025

«Gouvernanz, Gouvernanz, Gouvernanz!»

Während Jahren unterstützte die Schweiz die Ausarbeitung der neuen Verfassung in Nepal, die vor einem Jahrzehnt in Kraft trat Die damals entstandene föderale Staatsstruktur ist für Arno Wicki, Chef der Abteilung Asien und Amerikas bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), eine der wichtigsten Errungenschaften: Sie sei Teil der Lösung, um das Land nach den Unruhen im September 2025 wieder auf einen positiven Pfad zu bringen. Für die Schweiz bleibt die Förderung funktionierender Institutionen ein wichtiger Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit in Nepal.

Arno Wicki sitzt in einem Sessel und spricht mit dem Finanzminister, der rechts von ihm sitzt. Links sitzt Botschafterin Danielle Meuwly.

Herr Wicki, Nepal blickt in diesem Jahr auf 10 Jahre Verfassung zurück – eine Verfassung, bei deren Entstehung die Schweiz beteiligt war. Wo wird die Schweizer Unterstützung in der Verfassung Nepals sichtbar?

Schweizer Expertinnen und Experten haben seit Jahrzehnten in Nepal gearbeitet und auch den politischen Prozess der Erarbeitung der Verfassung unterstützt. Aufgrund der schweizerischen Erfahrungen setzte sich die Überzeugung durch, dass für einen Vielvölkerstaat wie Nepal eine föderale Staatsstruktur besser geeignet ist als eine zentralistische Staatsordnung. Der Föderalismus ist sicher ein von der Schweiz geprägter Aspekt in der Verfassung Nepals.

Steht die Verfassung auch für einen Demokratisierungsprozess in Nepal? Wenn ja: welche Rolle spielt dabei die Verfassung?

Beim Blick auf die Geschichte Nepals zeigt sich eine Entwicklung von einer absolutistischen Monarchie in verschiedenen Etappen in Richtung eines demokratischen Systems. Auf diesem Weg war die demokratische Verfassung ein bedeutender Schritt. Wichtig ist aber, dass die Verfassung auch gelebt wird, vor allem auf gliedstaatlicher Ebene. Hier hat die Schweiz in der Vergangenheit viel getan und unterstützt nach wie vor entsprechende Projekte.

Im September dieses Jahres erlebte Nepal Unruhen der Generation Z. War es ein Zeichen der Instabilität, dass die Unruhen ausbrachen – oder ein Zeichen der Stabilität, dass die Unruhen nicht lange anhielten?

Wie oft in Ländern, die einen Entwicklungsprozess durchleben, gibt es Themen und Momente, die zu Zerreissproben führen. Zum Beispiel wenn Reformen durchgeführt werden, die aber – wie in Nepal – in den Augen vor allem junger Generationen zu lange dauern. Protestiert wurde im September 2025 auch gegen die Korruption und mangelnde Arbeitsplätze. Gerungen wird ausserdem mit Politikern, die die verkrustete Machtstruktur nicht verändern wollen.

Auf der Strasse stehen Menschen in Gruppen, im Hintergrund brennt eine Barrikade, von der schwarzer Rauch aufsteigt.

Hatte die Verfassung während dieser Unruhen eine stabilisierende Wirkung?

Aus meiner Sicht zeigt die Tatsache, dass mit einer Interimsregierung in einer sehr dramatischen Situation eine Lösung gefunden werden konnte, dass die Verfassung solche Schocks absorbieren kann. In der Debatte darüber, ob ein föderales System für Nepal realistisch ist oder ob man zu einem zentralistischen Regierungssystem zurückkehren soll, hat sich bei den Unruhen erwiesen, dass die drei Ebenen eine zentrale Rolle spielen (z.B. Lokalbehörden für Basisdienstleistungen) und deshalb weiter gestärkt werden müssen. Es ist ein gutes Zeichen, dass die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank – auch dank der schweizerischen Einflussnahme – mittlerweile Projekte für den Aufbau von dezentralen Behörden finanzieren.

Sie haben Gruppen erwähnt, die den Demokratisierungsprozess ablehnen. Wo steht hier die Bevölkerung?

Die Mehrheit der Nepalesinnen und Nepalesen unterstützt die Umsetzung der aktuellen Verfassung, d.h. eine demokratische Staatsordnung. Aber es gibt auch andere Kräfte, die der Monarchie nachtrauern oder den föderalistischen Staat als ineffizient, korruptionsanfällig und teuer ansehen. Die Debatte um die Regierungsform wird heftig geführt.

Wie haben sich die Unruhen im September auf die Projekte ausgewirkt, die die Schweiz in Nepal im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit unterstützt?

Ein paar wenige Projekte waren direkt betroffen. In Gemeinden, in denen wir die Lokalisierung fördern, kamen die Behörden zu Schaden und Projekte zum Stillstand, welchen Nepal während einiger Wochen prägte.

Arno Wicki steht in einem Raum und ist umgeben von Mitarbeitenden der Gemeindeverwaltung von Suryodaya. Rechts neben ihm steht der Bürgermeister.

Wie hat die Schweiz darauf reagiert?

Uns ging es in dieser Phase darum, dass auf Provinz- und Gemeindeebene wieder Basisdienstleistungen angeboten werden konnten. Verwaltungsgebäude wurden niedergebrannt und es fehlte an allem. Mit punktueller Unterstützung der Schweiz konnte z.B. im Sozialamt und beim Strassenverkehrsamt ein temporäres Büro und ein Computer auf einem Tisch eingerichtet werden. Auf diese Weise haben die Menschen wieder Zugang zu Sozialleistungen oder erhalten einen Fahrausweis. Unter einfachsten Bedingungen nahmen die Behörden wieder die Arbeit auf, was als ein Zeichen der Resilienz und Hoffnung aufgenommen wird. Der eigentliche Wiederaufbau wird vom nepalesischen Staat finanziert, aber die Tatsache, dass die Schweiz in einer dramatischen Lage unbürokratisch zur Seite stand, vergisst man nicht.

Eine Verfassung entsteht über längere Zeit – die Unterstützung der Schweiz wirkt hier über die Anpassung von gesellschaftlichen Systemen und Strukturen. Ist das ein Einzelfall oder unterstützt die Schweiz in Nepal noch andere Projekte im Rahmen dieses systemischen Ansatzes?

Die meisten Projekte, die die Schweiz in Nepal unterstützt, haben den Anspruch, Reformen zu unterstützen, bzw. systemische Wirkung zu erzielen. Zum Beispiel trägt die Schweiz dazu bei, dass sich junge Nepalesinnen und Nepalesen über ihre Rechte und Pflichten informieren, wenn sie im Ausland arbeiten und später wieder zurückkehren wollen. Sie sind registriert und kennen die Umstände, wenn sie migrieren. Aber es geht auch um die Prävention von Ausbeutung und Misshandlung, mit der zahlreiche Migranten und Migrantinnen konfrontiert werden.

Häuser stehen rechts neben einer Strasse, deren linke Seite weggeschwemmt ist. Dort fliesst nun ein Fluss.

Ein anderes Beispiel sind Hängebrücken: Die Topographie ist in Nepal noch viel extremer als in den Alpen. So wurden schweizerische Hängebrücken zum Symbol der Verbindung von Talschaften und Regionen, die kaum miteinander Kontakte hatten. Anfänglich half die Schweiz, an schwierigen Stellen im Land Brücken und Übergänge zu bauen. Später ging es um grundsätzlichere – eben: systemische – Themen, etwa um technische Normen, Ausbildung von Fachpersonal, Regulierung oder um die Gesetzgebung im Bereich der Brücken- und Strasseninfrastruktur. Wir sind stolz darauf, dass im Verlauf der Jahrzehnte 10'000 Brücken im Zusammenhang mit schweizerischen Projekten gebaut werden konnten. Heute hat Nepal eigene Ingenieure und Baufirmen und wir haben nur noch wenige auslaufende Projekte im Infrastrukturbereich (z.B. Wissenstransfer im Tunnelbau).

Die Schweiz und Nepal feiern nächstes Jahr 70 Jahre bilateraler Beziehungen. Wie haben sich diese seither entwickelt?

1956 wurde unser Botschafter in New Delhi auch für Nepal akkreditiert. Damit nahm die Schweiz offizielle Beziehungen mit Nepal auf – als eines der ersten europäischen Länder. Doch Verbindungen bestanden schon früher: In den 1950er-Jahren führte der Schweizer Geologe Toni Hagen umfangreiche Feldforschungen in Nepal durch. Er kartierte das Land und legte damit sowie mit seinen Forschungen den Grundstein für die Zusammenarbeit beider Länder.

Seitdem hat sich unsere Zusammenarbeit kontinuierlich weiterentwickelt. 2009 eröffnete die Schweiz eine Botschaft in Nepal – in dem Gebäude, in dem das Schweizer Kooperationsbüro schon gearbeitet hatte.

Ein Bagger steht auf der Strasse und räumt Steine aus der Fahrbahn.

Aufgrund der langen Präsenz im Land und die enge Entwicklungszusammenarbeit geniesst die Schweiz heute eine sehr hohe Reputation. Ich denke auch, dass die Berge, geopolitische Lage und Diversität Nepals zu einer Art «Seelenverwandtschaft» zwischen unseren Ländern führt, dies trotz grosser Differenzen. Die Verbindung hat neben den fachlichen Aspekten auch eine emotionale Dimension – und sie führt zu konkreten Ergebnissen. Die Hängebrücken sind ein Beispiel, der Wissensaustausch im Umgang mit Naturgefahren in Bergregionen, in denen sich der Klimawandel besonders zeigt, ein zweites.

Von der Arbeit im Feld bis zu systemischen Reformen: Wo stehen die Schwerpunkte in Zukunft?

Unser aktuelles Kooperationsprogramm stützt sich auf drei Säulen: Erstens die Unterstützung Nepals auf seinem Weg zum Föderalismus. Zweitens die Schaffung von mehr wirtschaftlichen Möglichkeiten. Drittens die Verbesserung der Migrationssicherheit und die Unterstützung der Reintegration von Rückkehrern.

Den Mehrwert der Schweiz sehe ich vor allem im Beitrag in wichtigen «Nischen», in denen die Schweiz ihr Know-how einbringen kann, und in innovativen Ansätzen. Dazu gehören die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und der Umgang mit den enormen Katastrophenrisiken. So ergänzt die Schweiz z.B. die Kreditunterstützung der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank mit technischem Wissen und hebelt damit die Wirkung der Projekte. Für die eigentliche Infrastruktur setzen wir keine Entwicklungsgelder ein.

Und schliesslich: Gouvernanz, Gouvernanz, Gouvernanz! Wenn wir mit unserer Arbeit funktionierende Institutionen fördern, bringt dies – vor allem auf gliedstaatlicher Ebene - die Dienstleistungen näher an die Menschen und stellt Rechenschaftspflicht und Effizienz sicher. Denn gute Regierungsführung erübrigt Entwicklungszusammenarbeit.

Kontakt

Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)
Eichenweg 5
3003 Bern