«Wir haben den Osten viel zu homogen gesehen»
Vor 30 Jahren anerkennt die Schweiz die Unabhängigkeit der aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten. Die Schweizer Unterstützung für diese Länder nimmt ihre Arbeit auf und erkennt, dass das Bild eines einheitlichen Blocks nicht stimmt. Ziel ist, diese Länder auf ihrem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft zu begleiten. Eine komplexe Herausforderung, der sich die Schweiz annimmt: Einblicke aus 30 Jahren Ostzusammenarbeit.

Eigentlich hatte Michael Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion, vor, die Sowjetunion als Konföderation souveräner Staaten in die Zukunft zu führen. Der Vertrag zur Bildung der Union souveräner Staaten wurde im März 1991 im ersten und einzigen Referendum der Sowjetunion mit grosser Mehrheit angenommen.
Doch wie so oft überlebten die Pläne der Politiker den Kontakt mit der Realität nicht. Am 19. August 1991, einen Tag vor Unterzeichnung des neuen Vertrags, versuchen Putschisten in Moskau die Macht zu ergreifen. Michael Gorbatschov wird in seinem Ferienhaus auf der Krim festgesetzt. Doch die Putschisten haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Sie stossen auf breiten Widerstand in der Bevölkerung, weite Teile von Polizei und Armee verweigern den Gehorsam.
Der Putsch scheitert, führt aber dennoch zum Zerfall der Sowjetunion. Michael Gorbatschow tritt im Dezember als Generalsekretär der Kommunistischen Partei und damit als Staatschef zurück.

Anerkennung der Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken
Ehemalige Sowjetrepubliken wie die baltischen Staaten hatten schon vor dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erklärt, andere schliessen sich am 21. Dezember zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zusammen. Kurz darauf anerkennt die Schweiz die Unabhängigkeit der Russischen Föderation, der Ukraine, der Republiken Belarus und Moldau sowie von Kasachstan, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgisistan.
Was vorher im Westen als einheitlicher Block hinter dem Eisernen Vorhang wahrgenommen wurde, zeigt sich plötzlich als Gebilde von Vielvölkerstaaten. «Wir haben den Osten viel zu homogen gesehen», meinte 1999 der damalige Leiter der Ostzusammenarbeit, Remo Gautschi.
Teilweise unvorbereitet auf ihre Unabhängigkeit müssen sich diese Länder gewaltigen Herausforderungen stellen: Der Zerfall der Sowjetunion ist auch der Zerfall einer zentralistischen Regierungs- und Wirtschaftsstruktur. Nun bestehen kaum eigenstaatliche Institutionen. Die Wirtschaft schrumpft um 50-60%. Unter dem Deckel gehaltene Minderheitenkonflikte kochen hoch und führen zu blutigen Auseinandersetzungen.
Aus eigener Kraft angestossene Entwicklungsprozesse unterstützen
1993 stellt die Schweiz Mittel für die Ostzusammenarbeit in Russland, der Ukraine und Zentralasien bereit. Die Schweiz will den Wandel dieser Länder von Einparteienregierung mit Planwirtschaft zu pluralistische Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft unterstützen. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit und Neutralität ist sie dazu in einer vorteilhaften Position. So gelingt es der Schweiz als erstes europäisches Land 1996 einen Zusammenarbeitsvertrag mit Russland zu erhalten. Früh wird klar, dass der Ausbau der Infrastruktur und wirtschaftliche Entwicklung wenig Sinn macht, wenn dabei nicht auch Schritte in Richtung Pluralismus und Demokratie gemacht werden. Zudem erhält die Friedenssicherung Ende der 90er Jahre eine zunehmend tragende Rolle.
Die Schweiz will den Wandel dieser Länder von Einparteienregierung mit Planwirtschaft zu pluralistische Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft unterstützen.
Als entscheidend erachtet wird, dass Konfliktparteien bereit und in der Lage sind, den Weg zum Frieden selber zu gehen. Das gleiche gilt auch für Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit in anderen Bereichen: Der Beitrag der Schweiz besteht darin, angestrebte und aus eigener Kraft verfolgte Entwicklungsprozesse zu unterstützen. Die vor 30 Jahren in Gang gesetzten Veränderungsprozesse erfordern Zeit und einen Mentalitätswandel. Der Schlüssel zum Erfolg für das Schweizer Engagement in diesen Ländern war und ist der Aufbau und die Pflege von vertrauensvollen Beziehungen. Der «Human Factor» ist ein zentraler Aspekt dabei. Das zeigen ausgewählte Projekte aus 30 Jahren Ostzusammenarbeit.
Die Ostzusammenarbeit in postsowjetischen Staaten heute
Die DEZA hat ihre Fähigkeit, auf unterschiedliche Bedingungen und Bedürfnisse in den postsowjetischen Ländern zu reagieren, weiterentwickelt. Im Dialog mit ihren Partnern hat die Schweiz entscheidend zu angepassten Lösungen für komplexe Probleme und Reformen beigetragen. Deshalb wird ihre Unterstützung, verbunden mit dem langfristigen Schweizer Engagement, in den postsowjetischen Staaten sehr geschätzt.
Rechtstaatlichkeit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft und eine starke Zivilgesellschaft sind dabei die Zielsetzung. Das Augenmerk gilt besonders verletzliche Gruppen und der Gleichstellung der Geschlechter. Mit leichten Adaptionen arbeitet die Schweiz nach wie vor in jenen Bereichen, in denen sie einen Mehrwert erbringen kann:
- Gute Regierungsführung, Staatliche Dienstleistungen und Korruptionsbekämpfung
- Wirtschaftliche Entwicklung, Stärkung des Privatsektors und Berufsbildung
- Eindämmung des Klimawandels und Anpassung an dessen Folgen, Wasser- und Energiemanagement
- Gesundheit
Zielsetzung und Strategie der Ostzusammenarbeit in postsowjetischen Staaten stehen in Einklang mit dem grösseren strategischen Handlungsrahmen, den die Strategie der internationalen Zusammenarbeit 2021‒2024 vorgibt. Entsprechend der Aussenpolitischen Strategie der Schweiz und der Agenda 2030 der UNO setzt sich die Schweiz in vier Schwerpunktregionen für Jobs, das Klima, Rechtstaatlichkeit und die Reduktion der Ursachen von Flucht und unregelmässiger Migration ein.
Links
- Ostzusammenarbeit der DEZA
- Blue Peace: Wasser als Instrument für den Frieden
- Reform des Gefängniswesens in der Ukraine (Englisch)
- Märkte für armenische Viehzüchter Forschungsstelle
- Dodis (Diplomatische Dokumente der Schweiz): Vor 30 Jahren – Die Auflösung der UdSSR und die Anerkennung der Nachfolgestaaten
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